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Juli 2024

Sport-Informations-Dienst (SID)

Grenchen/München (SID) Jens Voigt wollte mit einem Paukenschlag abtreten – und das tat er auch. Nach seinem Stundenweltrekord ist jedoch Schluss, es wird nicht noch einen Überraschungscoup geben.

Zum Abschied posierte Jens Voigt noch einmal vor dem Ergebnis seiner letzten Großtat, schüttelte im Publikum zahlreiche Hände und verließ zu den Klängen der Popschnulze „Dust in the wind“ die Radsport-Bühne. Der 43-Jährige trat mit dem spektakulären Knall ab, den er sich gewünscht hatte. Hinter dem Stundenweltrekord stehen künftig der Name Voigt und die Marke 51,115 Kilometer – zumindest bis sich die großen Zeitfahrer der Zunft daran versuchen.

„Es ist meine Hoffnung, dass ich hier den Startschuss gegeben habe und diesem wunderschönen Event neues Leben einhauche. Es ist die ultimative Stunde der Wahrheit, es gibt kein Verstecken, es gibt keine Taktik“, sagte der Altmeister, der die Folgen seiner letzten Quälerei sofort zu spüren bekam: „Ich kann vor Erschöpfung kaum noch gehen. Ich wollte mich schon die Treppen rauftragen lassen.“

Davor hatte der gebürtige Mecklenburger, angetrieben von einem begeisterten Publikum, die Expertenprognosen eindrucksvoll bestätigt. Nicht nur die hinter den Kulissen penible Planung seiner Mission zeigte ihre Wirkung, auch der gravierende Materialvorteil im Vergleich zum tschechischen Vorgänger Ondrej Sosenka (49,700 Kilometer) kam zum Tragen. Dazu demonstrierte Voigt seine viel gerühmte Leidensfähigkeit und fuhr sich in den Schlussminuten regelrecht in einen Rausch. „Ich habe gelitten wie früher bei meinen Ausreißversuchen“, sagte er.

Nach seiner Rekordfahrt ließ Voigt sich dann bis in die Nacht hinein ausgiebig feiern, bekam eine Torte – garniert mit der neuen Bestmarke – geschenkt und holte auch seine Geburtstagsfeier nach. „Okay, jetzt geht’s schlafen“, twitterte er weit nach zwei Uhr und einer rauschenden Abschiedsparty, „um sechs Uhr muss ich zum Flughafen. Der Ruhestand beginnt ziemlich hart.“

Voigt freut sich jetzt auf mehr Zeit mit der Familie und seinen sechs Kindern in der Wahlheimat Berlin. Ein klein bisschen Wehmut gönnte er sich aber doch, schließlich hatten wenige so wie er den Zuspruch des Publikums gesucht und genossen. „Ich bin schon etwas traurig, ich werde es vermissen“, sagte Voigt, der sicher auch froh darüber ist, keine Fragen mehr zum Thema Doping beantworten zu müssen, auf die er in den letzten Monaten zumeist sehr gereizt reagiert hatte.

Sein finaler Coup soll nun möglichst den Schweizer Fabian Cancellara, den britischen Olympiasieger Bradley Wiggins oder den dreimaligen Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin zur Nachahmung anspornen. „Ich wünsche mir, dass sie sagen: Jetzt geben wir es dem alten Mann“, meinte Voigt.

Immerhin befassen sich die drei Genannten bereits mehr oder weniger konkret mit dem Thema. „Wenn sich die großen Zeitfahrer ranwagen“, sagte Martin dem SID, „dann hätten wir schöne Rahmenbedingungen für tolle Fernduelle. Ich werde sehen, wie das Thema in der Zukunft in meine Planungen passt.“ Voigt wäre dann den Rekord zwar wohl wieder los, doch der Eintrag in die Geschichtsbücher bliebe. Und das war es, was der Ausreißerkönig hinterlassen wollte.

 

Jens Voigt stellte den 28. offiziellen Stundenweltrekord der Geschichte auf*.

Die Stundenweltrekorde im Überblick:

  • 11. Mai 1883 in Paris: Henri Desgrange (Frankreich) 35,325 km
  • 31. Oktober 1894 in Paris: Jules Dubois (Frankreich) 38,220 km
  • 30. Juli 1897 in Paris: Oscar van den Eynde (Belgien) 39,240 km
  • 3. Juli 1898 in Denver: Willie Hamilton (USA) 40,781 km/h
  • 24. August 1905 in Paris: Lucien Petit-Brenon (Frankreich) 41,110 km
  • 20. Juni 1907 in Paris: Marcel Berthet (Frankreich) 41,520 km
  • 22. August 1912 in Paris: Oscar Egg (Schweiz) 42,122 km
  • 7. August 1913 in Paris: Marcel Berthet 42,741 km
  • 21. August 1913 in Paris: Oscar Egg 43,525 km
  • 20. November 1913 in Paris: Marcel Berthet 43,775 km
  • 18. August 1914 in Paris: Oscar Egg 44,247 km
  • 25. August 1933 in Roermond: Jan van Hout (Niederlande) 44,588 km
  • 28. September 1933 in St. Truiden/Belgien: Maurice Richard (Frankreich) 44,777 km
  • 31. Oktober 1935 in Mailand: Giuseppe Olmo (Italien) 45,090 km
  • 14. Oktober 1936 in Mailand: Maurice Richard (Frankreich) 45,325 km
  • 29. September 1937 in Mailand: Frans Staats (Niederlande) 45,485 km
  • 3. November 1937 in Mailand: Maurice Archambaud (Frankreich) 45,767 km
  • 7. November 1942 in Mailand: Fausto Coppi (Italien) 45,798 km
  • 29. Juni 1956 in Mailand: Jacques Anquetil (Frankreich) 46,159
  • 19. September 1956 in Mailand: Ercole Baldini (Italien) 46,394 km
  • 18. September 1957 in Mailand: Roger Riviére (Frankreich) 46,923 km
  • 23. September 1959 in Mailand: Roger Riviére (Frankreich) 47,347 km
  • 30. Oktober 1967 in Rom: Ferdinand Bracke (Belgien) 48,093 km
  • 10. Oktober 1968 in Mexiko Stadt: Ole Ritter (Dänemark) 48,653 km
  • 25. Oktober 1972 in Mexiko Stadt: Eddy Merckx (Belgien) 49,431 km
  • 27. November 2000 in Manchester: Chris Boardman (Großbritannien) 49,441 km
  • 19. Juli 2005 in Moskau: Ondrej Sosenka (Tschechien) 49,700 km
  • 18. September 2014 in Grenchen/Schweiz: Jens Voigt (Berlin) 51,115 km

* Neun Weltrekorde, die zwischen 1984 und 1996 auf experimentellen Rädern aufgestellt worden waren (u.a. durch Francesco Moser, Graeme Obree, Miguel Indurain und Tony Rominger), hat der Weltverband UCI im Jahr 2000 annulliert und in „Weltbestleistungen“ umgewandelt. Nummer eins dieser Liste ist der Brite Chris Boardman, der am 7. September 1996 in einer extremen Sitzposition mit weit vorgezogenem Lenker („Superman-Position“) 56,375 km/h schaffte.