sid

März 2024

Sport-Informations-Dienst (SID)

Lausanne/Berlin (SID) Das Aus von Oslo als Bewerber um die Olympischen Winterspiele 2022 hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) schwer getroffen. Norwegische Zeitungen spekulieren bereits über das „historische Ende“ der Olympischen Winterspiele. Doch IOC-Präsident Thomas Bach hielt im Interview mit dem Sport-Informations-Dienst (SID) dagegen.

„Niemand muss sich Sorgen um die Olympischen Spiele machen“, sagte Bach, nachdem sich am 1. Oktober Oslo als sechster und letzter europäischer Kandidat aus dem Kreis der möglichen Bewerber um die Ausrichtung der Winterspiele 2022 verabschiedet hatte: „Wir sehen weltweit, wie diese Spiele mehr denn je als Premiumprodukt wahrgenommen werden. Es würden sonst nicht sehr kühl kalkulierende Firmen oder TV-Anstalten Verträge bis ins Jahr 2032 abschließen.“

Die norwegische Zeitung Aftenposten hatte das IOC zuvor als großen Verlierer abgestempelt: „Sie haben Oslo nie die Hand gereicht. Jetzt wird das IOC zugrunde gehen – und die Winterspiele nähern sich ihrem historischen Ende.“ Hart ging auch die Tageszeitung Dagens Næringsliv mit dem IOC ins Gericht: „Exit Oslo. Aber ist es etwa total in Ordnung, an einem Fest teilzunehmen, solange eine Diktatur wie Kasachstan oder China die Bonzen versorgt?“

In dem nun favorisierten Almaty, das unter der Herrschaft des kasachischen Autokraten Nursultan Nasarbajew steht, und Peking gibt es nur noch zwei Bewerber. „Wir haben zwei Kandidaten, und das ist nicht neu für das IOC“, sagte Bach. Almaty stehe für die Wiederbelebung eines Wintersportzentrums aus Zeiten der Sowjetunion, Peking könne auf das Erbe der Spiele von 2008 zurückgreifen und entwickle ein neues Skigebiet.

Dass dort die Menschenrechte im Jahr 2022 und auf dem Weg dorthin nicht ausreichend beachtet werden könnten, glaubt Bach nicht: „Wir nehmen es sehr ernst, dass während der Olympischen Spiele die Olympische Charta Anwendung findet, das heißt, dass hier keinerlei Diskriminierung stattfindet, dass Meinungsfreiheit in Pressekonferenzen, Interviews und überall herrscht.“ Ende Juli 2015 wird in Kuala Lumpur entschieden, welche Stadt den Zuschlag erhält.

Das Oslo-Aus ist aber auf jeden Fall Wasser auf die Mühlen der Kritiker, die sagen, Olympia könne nur noch in autokratisch geführten Staaten ausgetragen werden. Vor Norwegens Hauptstadt hatten bereits Graubünden (Schweiz), München, Stockholm (Schweden) und Krakau (Polen) ihre Bewerbungsinitiativen eingestellt – vor allem, weil es nicht genug Unterstützung in der Bevölkerung gab. Zudem verzichtete die ukrainische Stadt Lwiw wegen der politischen Unruhen im Lande.

Persönlich zeigte sich Bach enttäuscht von Oslo. „Zunächst mal bin ich traurig für die norwegischen Athleten und den norwegischen Sport, weil sie diese Bewerbung wirklich großartig unterstützt haben“ sagte der 60-Jährige: „Es war eine politische Entscheidung und dem Fakt geschuldet, dass ein Regierungsbündnis eine Koalition aufs Spiel setzt für ein Projekt, dessen positive Auswirkungen sich erst nach dem nächsten Wahltag zeigen.“

Die norwegische Regierungspartei Høyre hatte sich am 1. Oktober gegen die Bewerbung ausgesprochen, auch in der mitregierenden rechtspopulistischen Fortschrittspartei FRP gab es Gegenwehr. „Die Unterstützung im Volk war einfach zu gering“, sagte Regierungschefin Erna Solberg. Bach kritisierte, dass sich bei einem IOC-Treffen am Vorabend kein Vertreter der norwegischen Regierung gezeigt habe.

Knackpunkt war vor allem das liebe Geld. Die Olympia-Befürworter hatten in Oslo zuletzt noch ein sparsameres Konzept vorgelegt. Die Ausgaben hätten sich für die öffentliche Hand um 4,3 Milliarden Kronen (525 Millionen Euro) reduziert. Doch auch das half nichts, am Ende waren der Regierungspartei die Staatsgarantien von mindestens 24,9 Milliarden Kronen (3,04 Milliarden Euro) zu hoch.

Bach weiß um das Problem. „Auf diese Fragen wollen wir Antwort geben mit der olympischen Agenda 2020“, sagte der Ober-Olympier. Das betreffe die Fragen, wie Spiele und Bewerbungen in Zukunft kostengünstiger und nachhaltiger gestaltet werden können. Auf der IOC-Session Mitte Dezember in Monaco soll die Agenda von den IOC-Mitgliedern bestätigt werden.

In Norwegen gab es auch Reaktionen des Bedauerns. Wintersport-Legende Ole Einar Björndalen meinte: „Oslo und Norwegen hätten die besten Spiele aller Zeiten ausrichten und Olympia wieder zu einem Volksfest machen können.“ Das IOC hatte bis zuletzt um Oslo gekämpft und so viel Geld wie noch nie versprochen. Die Ausrichter-Stadt sollte 880 Millionen US-Dollar (696 Millionen Euro) als „Stütze“ erhalten. Sotschi hatte für 2014 trotz immenser Gesamt-Investitionen von 50 Milliarden Euro „nur“ 750 Millionen US-Dollar (593 Millionen Euro) erhalten. Zudem implementierte das IOC zuletzt erhöhte Anforderungen an Menschenrechtsfragen in die Bewerberverträge. Oslo überzeugte dies alles nicht mehr.

Fragen und Antworten zum Rückzug der Osloer Olympia-Bewerbung

  • GAB ES SCHON MAL EINE BEWERBUNG UM WINTERSPIELE MIT NUR ZWEI BEWERBERN?

Ja, schon zweimal: Für 2006 Turin und Sion, für 1948 St. Moritz und Lake Placid. 1980 (Lake Placid) und 1924 (Chamonix) stand sogar nur jeweils ein Bewerber parat. 2006 hatte das IOC allerdings selbst die Bewerbungen von Helsinki/Finnland, Klagenfurt/Kärnten, Poprad/Slowakei und Zakopane/Polen nicht zugelassen. Eine Neuausschreibung der Spiele 2022, ohnehin technisch und rechtlich nicht umsetzbar, stand nicht zur Debatte.

  • WAS BEDEUTET OSLOS RÜCKZUG FÜR DAS INTERNATIONALE OLYMPISCHE KOMITEE?

Allen gegenteiligen Beteuerungen des IOC-Präsidenten Thomas Bach zum Trotz ist dies ein harter Schlag. Wie sehr das IOC Oslo im Bewerberkreis halten wollte, verdeutlichen zwei Initiativen des IOC, auf die es zuletzt bei jeder sich bietenden Gelegenheit hingewiesen hat: die finanzielle Unterstützung des Bewerbungssiegers in Höhe von 696 Millionen Euro und die verstärkte Implementierung von Menschenrechtsfragen in die Bewerberverträge. Beides überzeugte Oslo und Norwegen nicht mehr.

  • WO LIEGT DIE GEFAHR FÜR DAS IOC?

Peking und Almaty erfüllen westliche Standards in Menschenrechtsfragen derzeit nicht. Ein Imagewandel des IOC, dessen Ruf nicht zuletzt durch die Vorkommnisse während der Winterspiele in Sotschi weiter gelitten hat, dürfte unter diesen Umständen äußerst schwierig zu realisieren sein. Ob Olympische Spiele in traditionellen Wintersportregionen noch eine Zukunft haben, ist seit dem 1. Oktober fraglicher denn je.

  • WAS BEDEUTET OSLOS RÜCKZUG FÜR MÜNCHEN?

Alle Olympia-Befürworter in München können sich noch einmal so richtig ärgern. Hätte die bayerische Landeshauptstadt sich beworben, wären die Chancen mit dem Rückzug Oslos höher denn je gewesen. München, das wegen mangelnder Unterstützung in den betroffenen Gemeinden zurückgezogen hat, hätte weltweit die erste Stadt sein können, in der Winter- und Sommerspiele stattgefunden haben. Nun könnte es Peking werden.

  • WAS BEDEUTET OSLOS RÜCKZUG FÜR EINE MÖGLICHE BEWERBUNG HAMBURGS BZW. BERLINS UM DIE SPIELE 2024 ODER 2028?

Winterspiele sind das größere Sorgenkind des IOC als Sommerspiele. Der Oslo-Rückzug dürfte die Bewerbersituation für 2024 und 2028 nur wenig beeinflussen. Dennoch ist das IOC jetzt mehr denn je gezwungen, die Bewerbungskriterien für Olympische Spiele zu reformieren. Unter anderem von niedrigeren Kosten könnte auch ein deutscher Bewerber – und nicht zuletzt der Steuerzahler – profitieren.

  • IST DIE ZUKUNFT OLYMPISCHER WINTERSPIELE IN GEFAHR?

Nein, zumindest nicht unmittelbar. Das IOC besitzt gewaltige Finanzreserven und zudem das Vertrauen der Sponsoren und TV-Partner. Das alles gibt dem IOC Spielraum. Solange das IOC mit seinen Spielen in Problemländer gehen kann, ohne die Geldgeber zu verprellen, ist Olympia sicher. Sollte das Vertrauen auf breiter Front bröckeln, nicht mehr.

  • WER IST NUN FAVORIT FÜR 2022?

Almaty, schon allein aus geografischen Gründen, sollte die Stadt eine vernünftige Bewerbung auf die Beine stellen. Die Chance ist groß, dass das IOC nach Peking 2008, Pyeongchang 2018 und Tokio 2020 nicht schon wieder nach Peking beziehungsweise Fernost gehen will. Zudem könnte das kasachische Konzept, ein altes Wintersportzentrum wiederzubeleben, besser zu verkaufen sein.