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Dezember 2024

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Krakau (SID) Tief unter der Erde explodierte der isländische Vulkan. Mit weit aufgerissenen Augen stemmte Dagur Sigurdsson die goldene Meisterschale in die Höhe und schrie seine Freude heraus. „Schalalala“, gröhlte der sonst so besonnene Isländer und die deutschen Handballer stimmten voller Inbrunst mit ein.

Nach dem „Wunder von Krakau“ starteten Matchwinner Andreas Wolff & Co. im Keller des Restaurants „La Grande Mamma“ im Herzen der Altstadt eine wilde EM-Party – und sogar Sigurdsson mutierte dabei zum Feierbiest. „Ich bin überglücklich, überstolz und fassungslos. Man kann das fast nicht glauben“, sagte der 42-Jährige, noch immer überwältigt vom famosen 24:17-Erfolg seiner Rasselbande im Finale gegen völlig überforderte Spanier, dem SID.

Tatsächlich wird sich die Handball-Welt noch lange an diesen 31. Januar 2016 erinnern. Der deutsche Höhenrausch erreichte am Sonntagabend noch einmal eine neue Dimension. Sigurdssons Team, die selbsternannten „Bad Boys“, schrieb ein bedeutendes Kapitel deutscher Sport-Geschichte und verschob zum Abschluss ihrer zweieinhalb Wunder-Wochen von Polen noch einmal ihre eigenen Grenzen. Einem Vergleich mit den EM-Coups der Fußballer Dänemarks 1992 und Griechenlands 2004 hält der sensationelle Titelgewinn der DHB-Auswahl locker stand.

„Wir haben ein geiles Turnier gespielt“, sagte Wolff, der das Torwartspiel gegen Spanien mit unfassbaren Paraden und 48 Prozent gehaltener Bälle neu zu definieren schien: „Wir haben als Team zusammengefunden in einer beispiellosen Form. Wir haben in keiner Sekunde an uns gezweifelt und wussten immer, dass wir Europameister werden.“ Und Sigurdsson befand: „Wir sind von Spiel zu Spiel stärker geworden.“ Das Turnier sei eine „Riesenleistung“ des gesamten Teams gewesen.

„Wunder von Krakau“ – „Geiles Turnier“ –  Baumeister Sigurdsson

Wohl wahr: Kein Drehbuchautor der Welt hätte eine bessere Dramaturgie inszenieren können für das, was die deutsche Mannschaft in Polen abzog. Nach dem sportlich durchwachsenen Auftakt und der Niederlage gegen Spanien rechneten nur die kühnsten Optimisten mit einem derartigen Turnierverlauf. Wer konnte schon ahnen, dass Deutschland als jüngstes aller EM-Teams, eine Mannschaft ohne sechs ihrer Stammspieler, in nur zwei Wochen eine so imposante Entwicklung durchläuft, sieben Spiele in Serie gewinnt und am Ende derart souverän Europas Handball-Thron erstürmt.

Baumeister des deutschen Handball-Wunders ist zweifelsohne Bundestrainer Dagur Sigurdsson. Innerhalb kürzester Zeit formte der Isländer aus einem Team der Nobodys einen Champion und führte eine darbende Sportart so zurück ins Rampenlicht. In einem Klima des bedingungslosen Vertrauens wuchs bei den deutschen Grünschnäbeln auch das Vertrauen in die eigene Stärke – mit jeder Minute, von Tag zu Tag. Die fast logische Folge: Der EM-Titel von Krakau. Und damit auch das direkte Ticket für die Olympischen Spiele im Sommer in Rio.

Während die Mannschaft und Trainer Sigurdsson die Nacht zum Tag machten, genoss die Verbandsspitze um DHB-Vizepräsident Bob Hanning den Erfolg im Stillen und köpfte zur Feier des Tages eine „teure Flasche Rotwein“ auf dem Hotelzimmer. „Ich freue mich für den deutschen Handball“, sagte Hanning dem SID: „Wir haben jetzt eine große Chance.“ Im Gegensatz zu 2007, als es nach dem goldenen Wintermärchen bei der WM im eigenen Land rasant bergab ging, soll das EM-Gold von Polen nur der Anfang einer rosigen Zukunft für die Sportart sein.

„Wir stehen jetzt an der Weltspitze, das gilt es nun zu bestätigen“, sagte Wolff. Dies werde „eine Heidenarbeit“. Und Hanning frohlockte: „Die Mannschaft weiß jetzt, wie Erfolg schmeckt“, so der 47-Jährige, „und diesen Geschmack bekommst du aus dem Mund nicht so schnell wieder heraus.“

Die Verbandsoberen wurden zuletzt nicht müde, vom Ziel Olympiasieg 2020 zu sprechen. Dies ist nun hinfällig. Nach den Nackenschlägen der verpassten Olympia-Quali 2012 und der EM 2014 ohne deutsche Beteiligung, gehört die DHB-Auswahl plötzlich wieder zur Weltspitze. Das neue Ziel, man mag es kaum aussprechen, kann angesichts der bevorstehenden Rückkehr von Leistungsträgern wie Kapitän Uwe Gensheimer oder Steffen Weinhold nur lauten: Olympiasieg. 2016.

„Ich warne davor, jetzt schon zu glauben, dass wir Weltklasse sind“, sagte Hanning. Man sei „auf dem Weg, aber es wird Rückschläge geben. Deutschland wird auch noch Handball weinen müssen.“ Die großen Ziele würden weiterhin der Olympiasieg in vier Jahren und die Heim-WM 2019 sein. Aber, auch das betonte Hanning, „man sollte auf dem Weg mitnehmen, was da noch so auf der Straße liegt“.