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April 2024

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Evian (SID) Trotz aller Personalsorgen verbreitet Bundestrainer Joachim Löw vor dem EM-Halbfinale gegen Frankreich Zuversicht.

Joachim Löw begann verhalten, auch sein geliebter Espresso machte ihn am Montagvormittag nicht so richtig munter. Dann aber steigerte sich der Bundestrainer peu à peu in eine jetzt-erst-recht-Haltung und sagte dem Gastgeber Frankreich trotz aller Personalsorgen den Kampf an.

„In Brasilien stand 2014 auch ein ganzes Land mit 200 Millionen Einwohnern hinter der Mannschaft. Damals sind wir damit gut klargekommen, jetzt werden wir es wieder schaffen“, sagte der 56-Jährige drei Tage vor dem EM-Halbfinale in Marseille. Er erinnerte damit an das „Jahrhundertspiel“ – das sensationelle 7:1 des späteren Weltmeisters im WM-Halbfinale.

Zuvor hatte Löw aber mit ruhiger Stimme und ernster Miene die Verletzungsmisere reflektiert, die einen großen Schatten auf den historischen Viertelfinalsieg gegen Italien (6:5 i.E.) geworfen hatte. Das EM-Aus für Mario Gomez, die Verletzungen von Sami Khedira, der für das Halbfinale ausfällt, und Bastian Schweinsteiger sowie die Gelbsperre für Mats Hummels stellen den Bundestrainer vor große Probleme. Wenngleich er nach der Aufzählung seiner Baustellen gleich wieder in den Angriffsmodus schaltete: „Natürlich schmerzen die Ausfälle. Wir wissen aber, was wir tun müssen. Wir registrieren die Verletzungen, nehmen die Situation aber so an, wie sie ist. Wir stecken deshalb jetzt nicht den Kopf in den Sand.“

Wie Lösungen aussehen könnten, wollte Löw zwei Tage vor der Auflösung des deutschen EM-Quartiers in Evian am Genfer See nicht verraten. An seinen Gedankenspielen aber ließ er teilhaben: „Klar ist, dass es zwangsläufig personelle Veränderungen geben wird. Ich werde neue Namen bringen müssen. Ich habe immer betont, dass ich all unseren Spielern vertraue, auch denen, die bisher nicht gespielt haben“, sagte er.

Der Bundestrainer bestätigte, dass die bislang nicht berücksichtigten Emre Can und Julian Weigl Kandidaten für die Startelf gegen die Equipe tricolore sind. „Emre ist ein Spieler, der auf unterschiedlichen Positionen einsetzbar ist. Er ist sehr wuchtig, auch technisch stark und würde unserem Spiel sicher gut tun“, sagte Löw.

Zum Vergleich: „Julian ist ebenfalls ein sehr guter Spieler, er hat eine andere Herangehensweise und ist unheimlich sicher am Ball. Sollte es so sein, dass Schweinsteiger und Khedira ausfallen, muss ich schauen, welche Lösung ich wähle.“

Klar ist: Bei den maladen Profis wird Löw kein Risiko eingehen. „Spieler, die angeschlagen und nicht zu hundert Prozent fit sind, lasse ich definitiv nicht spielen. Das wird nie mehr so sein, weil wir es uns nicht erlauben können, immer nach 15, 20 Minuten zu wechseln“, sagte er. „Diesen Fehler habe ich vor langer Zeit einmal gemacht, das passiert mir nie wieder. Ich hoffe aber, dass es unser Kapitän schafft.“

Löw erinnerte, ohne einen Namen zu nennen, an Michael Ballack. Der ehemalige Kapitän war 2008 durch eine Wadenverletzung gehandicapt ins EM-Finale gegangen, Deutschland verlor 0:1 gegen Spanien.

Im Angriff muss Löw zwangsläufig wieder auf eine falsche Neun setzen, die sowohl von Mario Götze als auch von Thomas Müller gespielt werden könnte. „Vielleicht spielen wir aber auch mit zwei Spitzen“, sagte der Bundestrainer. Der bislang bei der EURO noch erfolglose Müller sei ein Spieler, „der in die Tiefe geht“ – Götze ein Spieler, „der die Bälle vorne sehr gut verteidigen kann, immer anspielbar ist und die Bälle weiterleiten kann“.

Festgelegt hat sich der Bundestrainer offenbar schon auf eine Rückkehr zur Viererkette. „Ich will mich nicht rechtfertigen, aber gegen Italien war die Dreierkette notwendig. Man muss immer schauen: Wo hat der Gegner seine Stärken? Alles andere wäre fahrlässig, naiv und unprofessionell.“

Angesichts der französischen Offensivpower biete sich eine Viererkette an, in der Allzweckwaffe Benedikt Höwedes wie schon beim 2:0 gegen die Ukraine zum Turnierstart als Hummels-Ersatz neben Jerome Boateng in der Innenverteidigung spielt. Unabhängig vom Personal, der Bundestrainer brennt auf das Halbfinale: „Super, ich liebe solche K.o.-Spiele gegen solche Mannschaften.“

Die großen Duelle Deutschland – Frankreich: Viermal Fontaine, Jacketkronen und Hummels-Tor

28.06.1958 in Göteborg/Schweden Frankreich – Deutschland 6:3 (WM, Spiel um Platz 3): An diesem Tag spielte Deutschland fast nur gegen einen, Just Fontaine – und verlor das Spiel um Platz drei bei der WM in Schweden gegen Frankreich mit 3:6. Fontaine erzielte vier der sechs französischen Tore. 13 Treffer schoss Fontaine damals in nur sechs WM-Spielen und stellte damit einen Rekord auf, den nicht einmal Bomber Gerd Müller knacken konnte.

08.07.1982 in Sevilla/Spanien Deutschland – Frankreich 3:3 n.V., 5:4 i.E. (WM-Halbfinale): Der „Thrilla von Sevilla“ war wirklich kein Spiel für schwache Nerven. 1:3 lag Deutschland in der Verlängerung zurück und schaffte doch noch durch Tore von Karl-Heinz Rummenigge (103.) und Klaus Fischer (108.) den 3:3-Ausgleich. Im Elfmeterschießen setzte sich die DFB-Elf mit 5:4 durch, obwohl Ulli Stielike verschossen hatte. Die rüde Attacke des deutschen Torwarts Toni Schumacher nach knapp einer Stunde Spielzeit gegen Patrick Battiston erregt noch heute die französischen Gemüter. Mit voller Wucht sprang der „kölsche Tünn“ dem Franzosen mit der Hüfte gegen den Kopf. Battiston erlitt einen angebrochenen Halswirbel, eine Gehirnerschütterung und büßte zwei Zähne ein. „Wenn es nur das ist, zahle ich ihm die Jacketkronen“, meinte Schumacher hinterher zynisch, als er von ausgeschlagenen Zähnen erfuhr. Für Frankreich ist die Niederlage von Sevilla immer noch ein riesengroßes Trauma.

25.06.1986 in Guadalajara/Mexiko Frankreich – Deutschland 0:2 (WM-Halbfinale): Manchmal wiederholt sich Geschichte: Vier Jahre nach Sevilla erwiesen sich die Deutschen für Platini & Co. erneut in einem WM-Halbfinale als zu stark. In Guadalajara entzauberte die Mannschaft von Teamchef Franz Beckenbauer die hocheingeschätzten Franzosen, die sich zuvor in einem denkwürdigen Viertelfinale gegen Brasilien im Elfmeterschießen durchgesetzt hatten. Eigentlich wollte sich die Equipe tricolore in Mexiko erstmals zum Weltmeister küren, die Tore von Andreas Brehme (9.) und Rudi Völler (90.) machten allerdings einen Strich durch die französische Rechnung. Frankreich musste bis zum ersten WM-Triumph zwölf weitere Jahre warten.

04.07.2014 in Rio de Janeiro Deutschland – Frankreich 1:0 (WM-Viertelfinale): Der Mann des Tages war Mats Hummels. Der Dortmunder war nicht nur Kopfballtorschütze des entscheidenden Treffers im Maracana-Stadion, sondern auch Stabilisator und Kämpfer in einer Person im deutschen Team. Allerdings zeigte auch Torwart Manuel Neuer am Ende seine Klasse, als er beim letzten Angriff einen Schuss von Karim Benzema mit einem Reflex parierte. Bundestrainer Joachim Löw sprang in diesem Spiel im Übrigen über seinen Schatten. Er beorderte Philipp Lahm aus dem defensiven Mittelfeld zurück rechts in die Viererkette, brachte Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger auf der Doppelsechs. Der Lahm-Schachzug erwies sich am Ende richtungweisend für den späteren WM-Triumph an gleicher Stätte gegen Argentinien (1:0 n.V.).