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November 2024

Sport-Informations-Dienst (SID)

Berlin (SID) Die deutsche Blindenfußball-Nationalmannschaft begeisterte bei der Heim-EM das Berliner Publikum. Die Spieler sehen quasi mit den Ohren.

Taime Kuttig lässt zwei Engländer eiskalt stehen, der Ball klebt eng an seinem Fuß. Von außen hört der Edeltechniker die Rufe des Trainers, des Torwarts, der Betreuer, doch er ruht in sich. Noch einen Moment wartet er, bevor er abzieht. Zu lange. Englands Torhüter pariert glänzend, das Berliner Publikum jauchzt kurz auf. „Pssssssst!“, zischt es durch die Arena am Anhalter Bahnhof. Mucksmäuschenstill muss es sein, denn Kuttig und seine Mitspieler sehen nichts. Sie sind blind – und sie spielen Fußball. Ende August für Deutschland bei der Heim-EM.

Wie das funktionieren kann, ist einem Sehenden schwer zu erklären. Für Nationalspieler Kuttig ist es Alltag. „Man muss sich schon sehr auf das Hören fixieren, dann lernen, die Nebengeräusche auszublenden und zu selektieren, was wichtig ist und was nicht“, sagte Kuttig dem SID: „Das ist manchmal sehr schwer. Das bekommt man erst durch Erfahrung hin.“

Und mit Hilfe. Neben dem rasselnden Ball sind die Rufe der Trainer von der Seitenbande für die Orientierung der Spieler über die gesamten 40 Minuten Spielzeit elementar.

Außerdem dirigiert der sehende Torwart die Abwehr aus dem Hintergrund und ein extra Guide jeweils inter dem gegnerischen Tor ruft die Stürmer heran.

Bei Freistößen klopft dieser mit einem Metallstift die Pfosten des 3×2 Meter großen Tores ab. Zur Orientierung für den Schützen. Damit die vier Feldspieler beider Mannschaften die Hilfestellungen hören können, bitten der Stadionsprecher und die Ordner immer wieder um Ruhe.

Auch im Sinne der Sicherheit ist gutes Zuhören wichtig. Mit dem Ausruf „Voy“ kündigt ein angreifender Spieler einen Zweikampf an. Und das ist auch bitter nötig. Kuttig hat es am eigenen Leib erfahren. Mit schmerzerfülltem Gesicht liegt er am Boden und presst einen dicken Eisbeutel auf seine Knie.

Im letzten EM-Gruppenspiel gegen den Favoriten England hat der 25-Jährige ordentlich was abbekommen. Das bleibt beim Blindenfußball nicht aus. Trotz des Warnrufes prallen die Athleten oft genug im Vollsprint aufeinander. Kuttig hat sein Einsatz nicht viel gebracht. Durch die 0:3-Niederlage gegen die Engländer verpasste sein Team das Halbfinale.

Im Verein spielt Kuttig bei Borussia Dortmund – mit Schalke 04, dem FC St. Pauli und dem Chemnitzer FC der namhafteste Verein der 2008 gegründeten Blindenfußball-Bundesliga.

Beim BVB lernte er Stars wie Marco Reus, Marcel Schmelzer und Roman Weidenfeller kennen. Die Begegnung war für beide Seiten besonders. „Wir treffen einfach bekannte Fußballer, aber sie lernen einen komplett neuen Sport kennen“, sagte Kuttig: „Ich glaube, da könnte man auch viel auf den sehenden Fußball übertragen. Gerade was die Ballkontrolle und das Antizipieren betrifft.“

Ziele hat Kuttig, der im Alter von zwölf Jahren nach einer angeborenen Sehbehinderung durch eine Netzhautablösung komplett erblindete, viele. Ab Oktober macht er in Köln seinen Master in Sportmanagement.

Wermutstropfen: Den angepeilten Platz fünf bei der Heim-EM verpasste das deutsche Team, das erst vor zehn Jahren unter dem Dach des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) gegründet worden und vor drei Jahren in Japan erstmals bei einer Weltmeisterschaft dabei war. Damit verpassten sie leider auch die Möglichkeit, das Ticket für die WM 2018 in Spanien zu buchen.

Doch Kuttig denkt weiter. An etwas, das bisher noch keine deutsche Mannschaft erreichte: „Das größte Ziel ist, mal zu den Paralympics zu kommen. 2020 oder 2024, aber irgendwann wird es auch eng. Ich bin jetzt 25. Es sollte schon demnächst mal klappen.“