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November 2024

Sport-Informations-Dienst (SID)

Kitzbühel (SID) Als Zehntausende aufschrien, begriff Thomas Dreßen zunächst gar nicht. Beim zweiten Hinsehen realisierte er, dass die „1“ neben seinem Namen aufleuchtete, riss die Arme in die Höhe, schnallte dann seine Skier ab, wuchtete sie in die Luft – und brüllte seine Freude hinaus. Dann hielt er kurz inne, kniete und senkte den Kopf. Um ihn herum brodelte es. Selbst auf der VIP-Tribüne standen sie, die Reichen und Schönen, und jubelten ihm zu. Ihm, Thomas Dreßen, Deutschland, Sieger beim wichtigsten, prestigeträchtigsten Ski-Rennen diesseits der Olympischen Spiele – der Abfahrt auf der Streif in Kitzbühel.

Es war nicht weniger als eine Sensation, und Dreßen fand kaum Worte dafür. „Einfach nur geil“, sagte er, „es war immer ein Traum von mir, mal eine Weltcup-Abfahrt zu gewinnen, auch Kitzbühel, und dass ich das jetzt auf einen Streich geschafft hab, ist einfach nur unglaublich.“ Ist es in der Tat. Dreßen, 24 Jahre alt, stellte die Ski-Welt auf den Kopf. Zumindest ein bisschen. Dass einer sein erstes Weltcup-Rennen auf der Streif gewinnt, ist schon selten genug. Dass es einem in so jungen Jahren gelingt, ist nicht minder außergewöhnlich und ein Widerspruch zu der These, dass in der alpinen Königsdisziplin vor allem Routine zählt.

Als Dreßen, spät gestartet mit der Nummer 19, nach durchgehenden Zwischenbestzeiten und schließlich 1:56,16 Minuten über die Ziellinie gerast kam, da war auch der verletzte Felix Neureuther, der an Krücken durch den Zielraum lief, fassungslos: „So eine Gänsehaut hatte ich noch nie bei einem Ski-Rennen“, sagte er.

Einer der ersten Gratulanten war Sepp Ferstl, der auf den Tag genau vor 39 Jahren als letzter Deutscher die Abfahrt auf der Streif gewonnen hatte. „Gott sei Dank, dass ich jetzt mal abgelöst bin, weil das hältst du auf Dauer nicht aus“, sagte Ferstl, der die Abfahrt auch schon ein Jahr zuvor, 1978, gewonnen hatte.

Dreßen hatte auch ein bisschen Glück. Als er sich um 12.26 Uhr aus dem Starthaus hinaus auf die 3312 m lange Streif katapultierte, da war gerade die Sonne herausgekommen, und bessere Sicht bedeutet: bessere Zeiten. „Er hat das schamlos ausgenutzt“, sagte der Österreicher Hannes Reichelt, Dritter (+0,41 Sekunden) hinter Dreßen und Weltmeister Beat Feuz (Schweiz/+0,21) – und außerdem am Sieg des jungen Deutschen nicht unbeteiligt: Denn Reichelt, 36 Jahre alt, Sieger von 2014, hatte am Vortag noch die Wahl zwischen den Startnummern 1 und 19. Er wählte die 1, für Dreßen blieb die 19. Ein Glücksfall.

„Wer weiß, vielleicht hat von oben wer zugeschaut und hat die Sonne ein bisschen mehr scheinen lassen bei mir“, sagte Dreßen. Eine Anspielung auf seinen Vater Dirk, der im September 2005 bei einem Seilbahnunglück in Sölden ums Leben gekommen war. Ihm zu Ehren hat er die „44“ auf seinen Helm gemalt, sie steht für „DD“ – der vierte Buchstabe im Alphabet ist das D. Der Gedanke an den Vater sei auch diesmal durch den Kopf geschossen, aber, ergänzte Dreßen: „Der Dank geht nicht nur nach oben, sondern auch zu meiner Mama. Wenn die mich nicht so unterstützt hätte und hinter mir gestanden wäre, wäre ich jetzt nicht da.“

Beinahe hätte es sogar einen deutschen Doppelsieg gegeben, Andreas Sander lag bei der Einfahrt in den Zielhang nur 0,14 Sekunden hinter der Zeit seines Mannschaftskollegen, wurde nach einem Patzer aber immer noch hervorragender Sechster. Josef Ferstl, Ferstl Junior, belegte Rang 20.

„Wenn alles aufgeht, hätte ich mit aufs Podium fahren können“, sagte Sander, der sich ansonsten mit Dreßen freute: „Krass, krass, krass! Ein Rennen zu gewinnen, dann sogar Kitz, ist ein bisschen kitschig. Aber vielleicht gewinnt er dieses Jahr ja zwei Rennen.“ In ein paar Tagen startet in Pyeongchang die Olympia-Abfahrt…