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April 2024

Sport-Informations-Dienst (SID)

München (SID) Die Vorbehalte werden weniger: Immer mehr Sportler und Trainer interessieren sich für die „Neuroathletik“. Nur die Fußballer tun sich schwer, mit alten Gewohnheiten zu brechen.

Per Mertesacker hat schon ein paar Minuten lang erklärt, was Neuroathletik ist, wie er selbst davon profitiert hat in seiner Karriere und warum sich jeder Sportler unbedingt damit beschäftigen sollte, als er plötzlich aufspringt von der schwarzen Ledercouch. Der ehemalige Fußball-Nationalspieler, laut seiner Autobiographie ja der „Weltmeister ohne Talent“, simuliert Kopfbälle von links.

Kopfbälle von links, berichtet Mertesacker bei der weltweit „1. Neuro Athletic Conference“ in München, habe er lange nicht richtig gekonnt. Bis er nach einer Knöchelverletzung 2012 den Sportwissenschaftler und Neuroathletiktrainer Lars Lienhard traf. Dieser habe ihm klargemacht: Wenn du dich verbessern willst, „nützen dir keine 5000 Flanken von der linken Seite„, die Veränderung müsse vorher stattfinden: im Kopf.

Lienhard bezeichnet sich als „Performance-Optimierer„, er arbeitet „mit dem zentralen Nervensystem, das die Bewegung steuert„, oder, laienhafter ausgedrückt: Wenn der Körper die Hardware des Menschen ist, greift einer wie Lienhard gezielt in die Software ein. Die „Neuroathletik“ soll nicht nur die Leistung eines Athleten verbessern, sondern auch Verletzungen vorbeugen oder nach Verletzungen vor weiteren schützen.

Mertesacker etwa hat unter anderem für Flanken von links gezielt sein linkes Auge geschult, er versichert: „Das Reset in meinem Gehirn hat mich besser gemacht“. Außerdem sei er durch die speziellen, zusätzlichen „Neuro-Drills“ von Lienhard viereinhalb Jahre verletzungsfrei geblieben. Mertesacker hat dabei einiges aushalten müssen: Weil er Übungen machte, die neu waren in seinem Umfeld, „haben die Leute mich ausgelacht“.

Das mit dem Gelächter hat sich mittlerweile gelegt. Bei der „Neuro Athletic Conference“ drängten sich rund 350 Trainer, Experten und Interessierte, um zu erfahren, wie sich die Steuerung des Gehirns, des neuronalen Systems, auf einen Athleten auswirkt. Vor Augen haben sie etwa die Sprinterin Gina Lückenkemper, die zur Aktivierung ihres Nervensystems schon mal plakativ an einer Batterie leckte.

Experten wie Lienhard verpassen der Software der Athleten ein Update, das Gehirn soll stets wissen, welche Signale es an den Körper senden muss. „Ich habe mit Olympiasiegern gearbeitet, die gar nicht mal so talentiert waren, wie man glaubt, aber clever trainiert haben“, sagt Lienhard. Auf Neuroathletik verlassen haben sich neben Lückenkemper etwa Kugelstoßer David Storl oder der Nordische Kombinierer Fabien Rießle, der von Steffen Teipel aufgebaut wurde.

Mit Lienhard arbeiten auch Serge Gnabry (München), Dominik Kohr (Leverkusen) oder Philipp Max (Augsburg) zusammen, doch der Fußball tut sich noch etwas schwer mit der Neuroathletik. Dabei hatte Lienhard schon vor der WM 2014 etwa mit Benedikt Höwedes und Mario Götze zusammengearbeitet – und geholfen, die verletzte Schulter von Manuel Neuer wiederherzustellen. Mitarbeitern des medizinischen und athletischen Stabes der Nationalmannschaft gefiel das dem Vernehmen nach überhaupt nicht.

Dabei liegt im Fußball vieles brach. Weil die individuellen Bewegungsabläufe nicht gezielt optimiert werden. Weil auch in der Trainingssteuerung nach Verletzungen einiges schiefläuft. Andreas Schlumberger, seit 2017 Leiter Prävention und Medizin bei Borussia Mönchengladbach, gehört zu den Progressiven im Lande, er sagt: „Es geht nicht darum, einen dicken Muskel zu haben, sondern diesen Muskel optimal zu nutzen.“

Beim FC Bayern geht zumindest die Nachwuchsabteilung mit der Zeit. Teipel, einer der führenden Neuroathletiktrainer, liefert auf dem Campus im Norden von München den Input und sagt: „Noch vor Jahren wäre das undenkbar gewesen.“ Für die Säbener Straße im Süden von München gilt das nach wie vor. Dort wirken Kräfte im medizinisch-athletischen Bereich, die Neuroathletik eher mit Skepsis betrachten.

Mertesacker muss nicht mehr überzeugt werden: Beim FC Arsenal, wo er mittlerweile die Nachwuchsabteilung leitet, sollen alle lernen, wie man ohne Talent Weltmeister werden kann.