Köln (SID) Der Deutsche Eishockey-Bund wollte 2026 bei der WM und Olympia um Medaillen spielen. Er ist seiner Zeit voraus. Die Hintergründe.
Die historische Medaille kam ein paar Jährchen zu früh. Erst 2026 sollte bei der WM und den Olympischen Winterspielen der große Angriff erfolgen, so hatte es der Deutsche Eishockey-Bund (DEB) mit dem Konzept „Powerplay26“ vorgegeben. Die Silberhelden von Tampere belehrten den Verband eines Besseren – doch wie war das möglich?
„Das Selbstvertrauen ist gewachsen, man spielt mit breiter Brust gegen die Topnationen“, begründet Gernot Tripcke im SID-Interview die starke WM. Der Geschäftsführer der Deutschen Eishockey Liga (DEL), die mit ihrem „Fünf-Sterne-Programm“ den Grundstein für das DEB-Konzept gelegt hatte, kennt das Erfolgsrezept: „Selbst wenn die besten Einzelspieler fehlen, macht das Team das im Kollektiv wett und wird dadurch noch stärker und unberechenbarer.“
Das wurde bei der WM in Finnland und Lettland mehr als deutlich. Mit unbändigem Teamgeist und enormer Nervenstärke marschierte die deutsche Auswahl bis ins Finale – und zur ersten Medaille seit 70 Jahren.
Der Verband ist seiner Zeit voraus, das gesteckte Ziel wurde drei Jahre früher erreicht als angestrebt. „Die letzten sieben, acht, neun Jahre sind sehr gute Entscheidungen getroffen worden“, sagte auch der frühere Bundestrainer Uwe Krupp im Sky-Interview. Das gilt insbesondere für das Amt des Bundestrainers: Harold Kreis führte die Arbeit seiner Vorgänger Marco Sturm und Toni Söderholm weiter.
„Harry hat mit dem gesamten Trainerstab einen Riesenjob gemacht“, schwärmt Tripcke. Kreis sei „ein totaler Sympathieträger. Als Bundestrainer musst du auch ein Botschafter sein – und da gibt es keinen besseren als ihn.“ Auch die Mannschaft äußert sich seit dem Amtsantritt des Deutsch-Kanadiers im März ausschließlich lobend.
Doch Tripcke warnt auch. „Das muss man realistisch sehen: Deutschland ist ein Land, das, egal wie die Besetzung ist, ums Viertelfinale kämpft“, sagt der DEL-Boss und verwies auf den enttäuschenden zehnten Platz in Peking im vergangenen Jahr.
„Wir haben es bei Olympia 2022 gesehen, als die Erwartungen in der Öffentlichkeit riesig waren“, merkt Tripcke an: „Es kann genauso sein, dass wir auch mal Fünfter in der Gruppe werden und ein Viertelfinale verpassen. Wir wissen alle, dass es gerade bei der Weltmeisterschaft eine Art Lotterie ist, welche Spieler gerade aus der NHL zur Verfügung stehen.“
Kreis konnte unter anderem nicht auf die NHL-Stars Leon Draisaitl, Tim Stützle oder Philipp Grubauer zurückgreifen. Doch das könnte sich bei den Winterspielen in Mailand und Cortina d’Ampezzo ändern. Die Profis aus der besten Liga der Welt werden dann wahrscheinlich wieder dabei sein, nachdem sie seit 2014 gefehlt hatten.
Das würde dem deutschen Team ungeahnte Möglichkeiten eröffnen – den anderen Nationen aber auch. „Man kann absehen, dass die anderen Nationen eine Schippe drauflegen, wenn sie alle NHL-Spieler zur Verfügung haben“, sagt Tripcke. Sorgen macht sich er sich aber nicht: „Selbst wenn die anderen Mannschaften mit NHL-Spielern kommen, können unsere DEL-Spieler durchaus mithalten.“
Die höchste deutsche Spielklasse sei ohnehin „ein Sprungbrett für die NHL“, betont Tripcke: „Die jüngere Generation“ mit Moritz Seider oder John-Jason Peterka habe es „schon genossen, weitaus mehr Spielzeit zu haben.“
Dennoch glaubt der DEL-Chef: „Es ist wahrscheinlich, dass uns in den Jahrgängen 2004 und 2005 die NHL-Stars fehlen werden – zumindest die, die mit 19 Jahren schon bereit sind, wie ein Stützle oder Seider.“
Der Trainer, alte und neue Anführer, mentale Stärke: Die Gründe für den WM-Erfolg
Die deutsche Eishockey-Nationalmannschaft hat sensationell Silber bei der WM gewonnen. Was steckt hinter diesem Erfolg? Der Sport-Informations-Dienst (SID) nennt die wichtigsten Gründe.
DER TRAINER
Harold Kreis, im dritten Anlauf endlich Bundestrainer, ist ein Glücksfall. Gleich bei seinem ersten Turnier als Chef zeigte er, was er in 20 Jahren als Profi und 26 Jahren als Coach gelernt hat. Der 64-Jährige wählte die Spieler nicht nach Scorerpunkten, sondern strikt nach Rollen aus, ließ freiwillig vier der besten fünf deutschen DEL-Torschützen zu Hause, passte die Taktik seiner Vorgänger Marco Sturm und Toni Söderholm an die Spieler an, behielt in kritischen Situationen die Ruhe, scheute sich aber auch nicht, einen seiner Stars ein Drittel lang auf der Bank schmoren zu lassen. Old School? Nein, historisch gut.
DIE „ALTEN“ ANFÜHRER
Kapitän Moritz Müller, von Kritikern als Auslaufmodell verspottet, zeigte in Tampere und Riga, dass er auch mit 36 Jahren noch viel zu bieten hat. Nicht nur in der Kabine, sondern auch auf dem Eis, wo er eine starke WM als Abwehrstabilisator spielte. Aber natürlich auch als Motivator neben dem Eis, der inzwischen mehr als jeder andere für den Geist der Olympia-Silberhelden von 2018 steht – und dafür, dass ein Viertelfinaleinzug nicht mehr wie in der Vergangenheit das Maß aller Dinge ist. Die andere Verbliebenen, Marcel Noebels, Jonas Müller und Dominik Kahun, unterstützten ihn dabei.
DER NEUE ANFÜHRER
Stanley-Cup-Sieger und WM-Finalist innerhalb eines Jahres: Was eigentlich nur Kanadiern oder Finnen und Schweden gelingt, schaffte auch Nico Sturm. Der Spätzünder, der erst mit 28 Jahren sein Debüt in der Nationalmannschaft gab, schwang sich gleich zum Leistungsträger und Führungsspieler auf. Ging mit riesigem Einsatz voran, blockte auch noch Schüsse, als Spiele längst entschieden waren, stand immer auf dem Eis, wenn es knifflig wurde. Und überraschte als Torjäger: Mit sechs Treffern war er am Ende der viertbeste des gesamten Turniers.
DAS TEAM
Acht WM-Debütanten nahm Kreis mit, ließ Torjäger wie Dominik Bokk oder Maximilian Kammerer zu Hause – und achtete besonders darauf, Spieler nach Aufgaben auszuwählen. So wurde beispielsweise Wojciech Stachowiak, der vor einem Jahr noch zeitweise in der zweiten Liga spielte, zum deutschen Senkrechtstarter der WM. Aber auch die anderen füllten perfekt ihre Rollen aus – und verinnerlichten den Teamgeist, der Berge versetzte.
DIE MENTALE STÄRKE
Nach drei Niederlagen zum Auftakt schrillten in der Heimat schon die Alarmglocken. Doch auch mit der Hilfe des Sportpsychologen Tom Kossak, der das Team bereits in den vergangenen Jahren begleitet hatte, behielten die Spieler die Ruhe und den Glauben an ihre Fähigkeiten – und gewannen sechsmal in Folge. Dabei warfen sie die beiden besten Teams der Vorrunde raus, weil sie mental stärker waren – auch weil sie schon früh im Turnier erfolgreich gegen Widerstände angekämpft hatten.
DIE SPIELWEISE
Kreis wollte nicht viel am Erfolgsrezept seiner Vorgänger ändern. Die Mannschaft sollte dominant und selbstbewusst auftreten – mit viel Scheibenbesitz. Doch er hatte schnell auch einen einfachen und effektiven Plan B parat: Wenn das Risiko zu groß wird, sollte der Puck ins Angriffsdrittel geschossen und mit starkem Forecheck zurückerobert werden. Die Großchancen für die Gegner wurden weniger, die eigenen Tore fielen immer häufiger.