Chennai/Berlin (SID) Die Schattenseite seines neuen Ruhms bekam Schach-Weltmeister Magnus Carlsen am 25. November am eigenen Leib zu spüren. Bei der offiziellen Siegerehrung löste der 22-jährige Norweger im indischen Chennai gleich zweimal tumultartige Szenen aus und musste sogar vor aufdringlichen Pressevertretern in Sicherheit gebracht werden. Zudem gab es aus Deutschland auch erste Kritik am Shootingstar: Schach-Ehrenpräsident Robert von Weizsäcker erklärte, Carlsen spiele zwar technisch fehlerfrei, aber „irgendwie uninspiriert, blutlos und fast seelenlos die Partien runter“.
Zwar nahmen die norwegischen Medien diese Meldung sofort auf, Carlsen selbst hatte aber erst einmal andere Probleme. „Wir mussten die eifrigsten Journalisten vertreiben“, sagte sein Vater Henrik Carlsen, nachdem er zusammen mit dem Betreuerteam seinen Sohn vor dem Ansturm geschützt hatte. Selbst die norwegischen Pressevertreter, die eine Art Mauer um den 22-Jährigen gebildet hatten, konnten dem Druck ihrer Kollegen nicht standhalten.
Schon am Freitag nach dem entscheidenden Remis zum 6,5:3,5-Endstand gegen Titelverteidiger Viswanathan Anand wäre die Situation fast eskaliert. Er habe am Freitag „Todesangst“ gehabt, zitierte das norwegische Boulevardblatt VG den zweitjüngsten Weltmeister der Geschichte.
Bei seiner Rückkehr nach Norwegen erwartete den mit einem Siegerscheck in Höhe von umgerechnet etwa 1,16 Millionen Euro, einem riesigen Siegerkranz sowie einer Goldmedaille und einem Pokal ausgezeichneten Carlsen ein großer Bahnhof – und höchstwahrscheinlich auch eine aufregende Zukunft.
Norwegische Medien spekulierten bereits, dass der Weltmeister jährlich 50 bis 60 Millionen Kronen (umgerechnet etwa sechs Millionen Euro) verdienen könnte. Bereits in Indien musste er sich fragen lassen, ob er in Shows wie „Let’s Dance“ auftreten würde, immerhin habe der Moderator der norwegischen Ausgabe „Rhythmusgefühl“ beim Schach-Weltmeister entdeckt. Auch Merchandising-Produkte wie das nach dem Langlauf-Olympiasieger Petter Northug benannte „Northug-Brot“ wurden bereits von Journalisten ins Spiel gebracht.
In Deutschland regte sich dagegen erstmals auch Kritik. Im Deutschlandfunk sagte Robert von Weizsäcker (59), dass Carlsen gewonnen habe, „weil er der bessere Sportler ist“. Schachspieler, meint der älteste Sohn von Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker, gebe es bessere. „Carlsen spielt und spielt und spielt und zwingt den anderen, der über 20 Jahre älter ist, in die vierte und fünfte Stunde. Die Stellung ist im Grunde remis. Aber er spielt immer weiter und sitzt Anand aus“, ergänzte er.
Dies nötige ihm nicht den Respekt ab zu sagen, er sei der beste Schachspieler der Welt – vom reinen Schachverständnis her. Dennoch hofft auch Weizsäcker auf einen Schach-Boom: „Ob ich der Meinung bin, dass der inhaltlich, schachlich gerechtfertigt ist, ist eine andere Frage.“
Carlsen dürfte dies ziemlich egal sein. Erst einmal will er sich nach seiner Rückkehr ausruhen. Die aufregenden letzten Wochen haben auch bei ihm Spuren hinterlassen. Seinen nächsten Auftritt am Schachbrett soll es erst im Januar geben. Dann wird sich auch herausstellen, wie nachhaltig der „Carlsen-Effekt“ ist. In Norwegen ist er jedenfalls schon spürbar.
„Es ist fantastisch, dass so viele Leute finden, dass Schach etwas Spannendes ist. Vielleicht haben sie aber auch den Fernseher nur aus Versehen angeschaltet“, sagte Carlsen. Immerhin hatten die TV-Übertragungen einen Marktanteil von teilweise über 40 Prozent. In Norwegen ist der Schach-Boom schon ausgebrochen: „Dass Leute in der Mittagspause über Schach sprechen und Kinder in der Schule Schach spielen – das ist wunderbar. Ich habe nie geglaubt, dass es so kommt.“