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November 2024

Sport-Informations-Dienst (SID)

Köln (SID) Hat Deutschland den Anschluss verloren? Nach dem frühen WM-Aus schlagen Experten Alarm.

Das krachende WM-Aus hallt nach, die Alarmglocken läuten: Gleich nach der Heimkehr begann Martina Voss-Tecklenburg mit der Fehleranalyse, um sie herum werden die Rufe nach Reformen in der einstigen Frauenfußball-Hochburg Deutschland immer lauter.

Die Kernvorwürfe an die Adresse der Bundestrainerin nach dem Viertelfinal-K.o. gegen Schweden (1:2) lauten zu viel Rotation und zu wenig Kommunikation. „Wir wussten, dass Rückschläge zu dem eingeschlagenen Weg gehören werden, diese müssen wir hinnehmen und die richtigen Schlüsse ziehen“, ließ „MVT“ über die Bild-Zeitung verlauten – und gab zu: „Auch Fehler und vor allem der Umgang mit Fehlern gehören zu einem solchen Prozess.“

Diese sollen „zeitnah intern“ besprochen werden. Dass die Fußballlehrerin Voss-Tecklenburg trotz diskutabler WM-Personalentscheidungen Bundestrainerin bleibt, steht außer Frage. Die Chefetage des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) hatte der 51-Jährigen nach nur einem halben Jahr im Amt sofortige Rückendeckung gegeben.

Aus der Bundesliga wurden die WM-Leistungen der deutschen Auswahl zurückhaltend kritisiert. „In allen fünf WM-Spielen hat die Mannschaft nur phasenweise angedeutet, was in ihr steckt – aber leider nie über 90 Minuten“, schrieb Ralf Kellermann in seiner kicker-Kolumne.

Der Sportliche Leiter des Double-Gewinners VfL Wolfsburg äußerte zudem tiefe Enttäuschung, „weil eine große Chance verpasst wurde. Das Halbfinale war zum Greifen nah, und die Olympia-Qualifikation wurde auch verpasst“. Zumal die Aufmerksamkeit während Tokio 2020 „dem deutschen Frauenfußball schon sehr gutgetan“ hätte.

Das liegt auf der Hand – doch das zweite Viertelfinal-Aus in Folge nach der EM 2017 unter Steffi Jones wirft auch grundsätzliche Fragen auf im Land des zweimaligen Welt- und achtmaligen Europameisters. Die großen Anstrengungen auch finanzieller Art zum Beispiel beim WM-Halbfinalisten England oder in Spanien, wo der Verband zur nächsten Saison 20 Millionen Euro in den Frauenfußball pumpt, setzen völlig andere Maßstäbe.

Nicht ohne Grund kehren immer mehr Nationalspielerinnen der Bundesliga den Rücken, um im Ausland mehr Geld und Aufmerksamkeit zu bekommen. „Man sieht, dass das große Investment gerade auch in vielen anderen europäischen Ländern auch seine Früchte trägt. Da müssen wir im deutschen Frauenfußball gucken, dass wir nicht den Anschluss verlieren“, mahnte entsprechend Olympiasiegerin Annike Krahn im Deutschlandfunk.

Ihre Ex-Teamkollegin Inka Grings stieß ins gleiche Horn. „Ob das derzeitige Niveau der Bundesliga reicht, um international konkurrenzfähig zu sein, da wird in den nächsten Wochen intensiv drüber gesprochen werden müssen. Die Liga muss sich weiterentwickeln“, äußerte die Trainerin des SV Straelen in ihrer Kolumne bei t-online.de.

Der Schritt in die Professionalisierung sei unumgänglich, so die zweimalige Europameisterin: „Man hat mehr Möglichkeiten, sich zu entwickeln, wenn man den Fokus stärker auf das Spiel legen kann. All diese Dinge müssen kommen und sich ändern. Sonst wird der deutsche Fußball absolut hinterherhinken.“

Ex-Bundestrainerin Silvia Neid sieht Deutschland nicht im Hintertreffen, beobachtet als Leiterin der Frauen-Scoutingabteilung im DFB aber auch die Fortschritte der Konkurrenz mit Argusaugen. „Wir haben eine Mannschaft mit Spielerinnen, die sehr viel Qualität haben. Angesichts der Entwicklung der Ligen beispielsweise in England oder Spanien muss man aber auch genau hinschauen, und Ziele für die Entwicklung festlegen“, sagte die 55-Jährige dem SID.

Das Timing der Grundsatzdiskussion könnte nicht kurioser sein. Am 2. Juli nämlich war es genau 30 Jahre her, dass Neid und Co. in Osnabrück der erste deutsche EM-Triumph gelang. „Es war der Durchbruch des Frauenfußballs in Deutschland“, erinnert sich Neid.

Drei Jahrzehnte später wird nicht mehr Durch-, sondern der Umbruch gebraucht.