München (SID) Der deutsche (Behinderten-)Sport steht am Scheideweg. Nach den Paralympics sind Reformen nötig, um nicht noch mehr den Anschluss zu verlieren.
Als die deutsche Paralympics-Mannschaft am Montag mit dem Flug LH717 von Tokio in Frankfurt/Main landete, stand der vielleicht schwierigste Teil der Mission erst noch bevor. Nach dem bislang schlechtesten Abschneiden im Medaillenspiegel muss der Deutsche Behindertensportverband (DBS) wegweisende Entscheidungen treffen. Sicher ist vor den angekündigten Gesprächen nur: Ein „Weiter so“ kann es vor den kommenden Spielen 2022 in Peking und 2024 in Paris nicht geben, um nicht noch mehr den Anschluss an die Spitze zu verlieren.
Dem deutschen (Behinderten-)Sport stehen grundsätzliche Entscheidungen bevor. Auch beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) wurden nach dem enttäuschenden Abschneiden in Tokio, dem schlechtesten seit der Wiedervereinigung, dringend Reformen gefordert – wieder einmal. Bahnrad-Olympiasiegerin Kristina Vogel, die nach einem Trainingsunfall im Rollstuhl sitzt, hatte die ganze Problematik zuletzt bereits aufgezeigt. „Wenn man Gold will, muss man eben auch Gold fördern – und nicht nur ganz oben, sondern schon ganz unten. Ich weiß nicht, ob uns das immer so bewusst ist“, sagte Vogel der SZ.
Diese Defizite an der Basis wurden auch im Team D bei den Paralympics allzu deutlich. Zwar gab es die erhofften Ausrufezeichen etwa durch Markus Rehm, Edina Müller oder Johannes Floors und goldene Überraschungen durch Taliso Engel, Annika Zeyen oder Jana Majunke. Doch in der Breite fehlte zu oft die Klasse fürs Podest. „Wir erleben international eine zunehmende Professionalisierung, da haben wir in Deutschland Nachholbedarf“, räumte Karl Quade, Vizepräsident Leistungssport beim DBS, ein.
Er wolle der Analyse, „die wir sehr ausführlich nach Tokio machen werden“, zwar nicht vorgreifen, so Quade weiter: „Aber das Problem Nummer eins ist die Nachwuchsfindung, die Nachwuchssichtung und die Nachwuchsförderung. Wir müssen die Basis vergrößern.“ Die Förderinstrumente würden „weitgehend greifen“, ergänzte Quade, „dies zeigt das Beispiel Bundeswehr. Aber das müssen wir noch erweitern.“
Seine Vorschläge für die anstehenden „Herausforderungen“: „Wir müssen die Landesverbände mit in die Leistungssportkonzepte einbeziehen. Wir müssen Bund-Länder-Maßnahmen koordinieren.“ Vor allem aber müsse es gelingen, betonte der DBS-Vize, „mittel- und langfristig die paralympischen Sportarten stärker in die Strukturen der olympischen Spitzensportverbände zu integrieren und die Zusammenarbeit zu intensivieren, um die Weltspitze nicht aus den Augen zu verlieren“.
Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich der DBS bewegt. Dies verdeutlichen auch die Worte von Präsident Friedhelm Julius Beucher, der kein generelles strukturelles Problem im deutschen Sport erkennen mag. „Viele Länder, die so aufgeholt haben, haben etwas gemacht haben, was ich vom Grundsatz her ablehne. Sie verzichten auf Vielfalt. Das ist eine Grundsatzfrage, die der deutsche Sport insgesamt klären muss“, sagte Beucher dem SID und forderte etwa „eine Erweiterung des dualen Konzepts. Ein junger Mensch braucht eine Perspektive.“
Es sind Diskussionen, die auch Para-Star Rehm beschäftigen. „Wir sind im Wandel zur Professionalisierung. Wichtig ist, dass die Förderung stimmt. Nur dann kann man die Leistungen weiter steigern“, sagte der Weitspringer. Es sei noch „viel Luft nach oben. Man muss aber schon dankbar sein, was sich verändert hat, etwa durch die Förderung der Bundeswehr.“
Selbst der kleine Nachbar Niederlande ist inzwischen im Spitzensport zum Vorbild gereift. Sowohl bei Olympia (Rang 7) als auch bei den Paralympics (5) waren die Holländer besser platziert als Team D. Man schaue natürlich „auch dahin, woran das liegt. Man tauscht sich aus“, sagte Quade. Bisherige Erkenntnis: „Das System ist ein etwas anderes.“