Köln (SID) Die erste Weltmeisterschaft zwischen Anatoli Karpow und Garri Kasparow vor 30 Jahren war der Auftakt zu einem der größten Schach-Duelle der Geschichte.
An den Absperrungen vor dem Moskauer Haus der Gewerkschaften drängen sich die Menschen. Viel bekommen sie nicht zu sehen vom Helden der Sowjetunion und dessen Herausforderer, von dem alle sagen, er könne Wunder vollbringen am Brett. Kurz nacheinander fahren zwei schwarze Limousinen vor. Anatoli Karpow und Garri Kasparow springen heraus und eilen in die riesige Säulenhalle, die Köpfe gesenkt, schon hoch konzentriert.
Was Karpow dann vor 30 Jahren mit dem weißen Königsbauern eröffnete, war weit mehr als die erste Partie zweier Genies um die Schach-Krone. Das Duell wurde stilisiert zu einem Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Aufbruch und Tradition. Sechs Jahre lang bekämpften sie sich in insgesamt fünf WM-Serien, während sich die Verhältnisse um sie herum dramatisch wandelten.
An jenem 10. September 1984 sind die Rollen klar verteilt. Karpow (damals 33), der Weltmeister, ist ein Superstar der UdSSR, von den Partei-Bonzen geliebt, Träger des Lenin-Ordens. Der Ingenieurs-Sohn aus Slatoust ist unumstrittener König der Schachwelt, seit Weltmeister Bobby Fischer 1975 nicht zum WM-Kampf gegen ihn angetreten ist. Am Brett drückt der eiskalte Stratege seinen Gegnern geduldig und gnadenlos die Luft ab.
Kasparow (damals 21) ist in jeder Hinsicht der Gegenentwurf. In Baku/Aserbaidschan als Garik Weinstein geboren, lernt er im Alter von fünf Jahren Schach von seinem Vater Kim, einem jüdischen Musiker, der zwei Jahre später an Krebs stirbt. Seine Mutter Klara, eine Armenierin, erzieht ihn mit harter Hand. Garri ist heißblütig und streitlustig. Am Schachbrett geht er immer volles Risiko, ein Übermaß an Kreativität und Angriffslust überfordert seine Gegner.
Nur Karpow (zunächst) nicht. Der Champion dominiert den Emporkömmling in den ersten WM-Wochen nach Belieben. Beim Stand von 4:0 gilt er als sicherer Sieger. „Ich habe Karpow unterschätzt. Ich musste etwas tun“, sagt Kasparow rückblickend. Er holt Tofik Dadaschew in sein Team, einen sagenumwobenen Parapsychologen des KGB. Haudrauf Kasparow spielt nun auf Zeit, trotzt Karpow 17 Remis in Folge ab, die internationale Presse lästert schon über das „Duell der Langeweile“.
Kasparow gewinnt Spiel 32 und verkürzt auf 1:5. 14 weitere Remis treiben beide an ihre Grenzen, vor allem Karpow baut auch körperlich enorm ab. Kasparow gewinnt die 47. und 48. Partie.
Dann geschieht das Unfassbare: Am 15. Februar 1985 beruft Florencio Campomanes, philippinischer Präsident des Weltverbandes FIDE, hastig eine Pressekonferenz ein und bricht die WM ab – offiziell aus Sorge um die Gesundheit der Spieler. Kasparow stürmt aufs Podium und spricht mit drohend erhobenem Zeigefinger von einem Skandal.
„Mit meinem Auftritt habe ich die Grenze vom Sport zur Politik überschritten in einem System, in dem Aufbegehren nicht vorgesehen war. Eigentlich war das Selbstmord. Mittlerweile sage ich: In dieser Minute hat sich alles für mich geändert“, meint Kasparow heute.
Karpow behauptet noch immer, Heidar Alijew, Politbüromitglied und einziger, aber mächtiger Unterstützer Kasparows aus der Politik, habe Campomanes zum Abbruch gezwungen – schließlich habe er noch immer 5:3 geführt. Kasparow argumentiert, seine Aufholjagd habe den erschöpften Karpow derart in die Enge getrieben, dass dieser das Ende veranlasste.
Während damals die Medien im Osten Karpow folgten, schlugen sie sich im Westen zumeist auf die Seite des Aufbegehrers. Der Klassenkampf am Rande des Schachbretts hatte längst begonnen.
Und er wurde immer heftiger. Im September 1985 begann das zweite Duell, wieder in Moskau. Fünf Monate, nachdem Michail Gorbatschow in den Kreml eingezogen war. Kasparow gewann durch einen Sieg im letzten Spiel erstmals die WM. Er verteidigte sie ab Juli 1986 in London und Leningrad durch ein 5:4 erfolgreich. Immer wurden die Duelle von heftigen Streitereien zwischen beiden Lagern begleitet.
Beim vierten Match 1987 in Sevilla duellierten sich erstmals zwei Sowjetsportler im Westen, flankiert von einem gewaltigen Medienaufkommen. „Das war kein normales Schachspiel mehr. Dieses Duell wurde zu einem Teil der Perestroika, und ich war das Symbol für Veränderung“, sagt Kasparow. Wieder zwang er Karpow im letzten Duell in die Knie, der Punkt zum 12:12 genügte ihm zum Sieg.
Während der fünften WM-Serie 1990 in New York und Lyon weigerte sich Kasparow, unter sowjetischer Flagge zu spielen. Nach zermürbenden Verhandlungen wurde ohne Tischfahnen gespielt – Kasparow gewann 4:3. Ein Jahr später fiel die Sowjetunion endgültig in sich zusammen.
Beide blieben sich treu. Karpow, der erneut Champion wurde, weil Kasparow seinen eigenen Verband gründete, unterstützt mittlerweile als Duma-Mitglied Wladimir Putin. Der russische Präsident wiederum zählt den Dissidenten Kasparow heute zu seinen Erzfeinden. 2007 ließ er ihn zwischenzeitlich sogar festnehmen.
Während Kasparows Gefängnisaufenthalt fanden die ewigen Rivalen zueinander. Karpow brachte Kasparow die Schachzeitschrift „64“ vorbei. „Er hatte kein so grobes Vergehen begangen, dass man einen Weltmeister hinter Gitter hätte werfen sollen“, sagte Karpow – und beeindruckte damit sogar seinen Erzrivalen Kasparow: „Das brachte mich dazu, mein Verhältnis zu ihm zu überdenken.“