Berlin (SID) Die Schwimmerin Ysra Mardini aus Syrien will bei Olympia in Rio für das IOC-Flüchtlingsteam starten. Ihre Flucht nach Berlin war Albtraum und Heldenstück zugleich.
Als das kleine Schlauchboot vor der türkischen Küste ins Wasser gelassen wird, macht sich Angst breit. Es ist Platz für sechs Personen, die Schlepper zwängen 20 Menschen hinein. Nach 30 Minuten ein Leck, das Boot droht zu sinken. Auch Ysra Mardini und ihre Schwester Sarah springen ins Wasser, ziehen das Boot drei Stunden bis Lesbos und retten die Besatzung vor dem Untergang. Ein Heldenstück auf der Flucht nach Berlin. Dort kommt das Glück zurück. Die 18-Jährige ist Kandidatin für das Flüchtlingsteam des IOC, das bei Olympia in Rio (5. bis 21. August) startet.
Der Weg nach Deutschland ist weit. Auf der Balkan-Route lauern weitere Gefahren. Die Schwestern aus Damaskus haben Angst, als sie in einem Waldstück an Ungarns Grenze vom Suchscheinwerfer der Grenzpolizei verfolgt werden. Ende August ist Berlin erreicht – nach 25 Tagen voller Furcht und Ungewissheit. Bei den Wasserfreunden Spandau 04 finden sie eine neue sportliche Heimat.
„Ysra ist trotz aller Erlebnisse um Krieg und Flucht ein erstaunlich entspannter Mensch geblieben“, sagt ihr Berliner Trainer Sven Spannekrebs dem SID. Das gelte auch für Freitag, wenn der große Medientag in Berlin ansteht. Über 100 Journalisten aus aller Welt haben sich angesagt. Mardinis Story ist ein Stück Zeitgeschichte. „Ich glaube nicht, dass sie besonders nervös sein wird“, sagt Spannekrebs.
Mardini wurde in Syrien nationale Meisterin über 200 und 400 m Lagen sowie über 50, 100 und 200 m Schmetterling. Sie startete bei den Asienspielen und bei der Kurzbahn-WM 2012 in der Türkei. Sie ist ehrgeizig und zieht in Berlin wieder fleißig ihre Bahnen, zehnmal pro Woche. Mitte März verbesserte sie ihre Bestzeit über 400 m Freistil auf 4:49 Minuten. „Die Norm des Weltverbandes FINA wird sie nicht erreichen. Ihre einzige Chance, in Rio dabei zu sein, ist das Flüchtlingsteam“, sagt ihr Trainer.
Für die Kandidaten im Flüchtlingsteam ROA (Refugee Olympic Athletes) wird es auch Normen geben, allerdings liegt die Messlatte nicht so hoch. Derzeit hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) weltweit 43 Kandidaten im Auge. Neben Mardini sind nur die Namen der Taekwondo-Kämpferin Raheleh Asemani (Iran) und der Judo-Kämpferin Yolande Mabika (Kongo) bekannt.
Am Ende sollen fünf bis zehn Athleten unter olympischer Flagge in Rio starten. Das Team wohnt im Olympischen Dorf, bekommt vom IOC Trainer und Betreuer gestellt. Das IOC will mit der Gründung des Teams „ein Zeichen der Hoffnung für flüchtende Sportler auf der ganzen Welt“ setzen und darf sich dafür des Lobes von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sicher sein.
Doch vielleicht sollte man bei den Lobeshymnen einen Verein wie die Wasserfreunde Spandau 04 nicht vergessen. Der Klub lebt Integration, transportiert täglich Kinder aus dem Flüchtlingsheim in der Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne zu Turn- und Schwimmunterricht. „Viele von ihnen sind übers Wasser gekommen und haben Traumata. Wir wollen ihnen zeigen, dass Wasser nicht nur gruselig ist“, sagte Cheftrainerin Renate Stamm der Berliner Zeitung.
Sollte Mardini tatsächlich den Sprung nach Rio schaffen, steht ihr Start ganz unter dem olympischen Motto „Dabei sein ist alles“. Eine vordere Platzierung ist nicht drin. „Aber vielleicht in Tokio vier Jahre später. Dann ist sie auch erst 22“, sagt Spannekrebs. Fragt sich nur, für welches Land sie dann startet.