Rio de Janeiro (SID) Als Majd Eddin Ghazal im Mai mit 2,36 m an die Spitze der Jahresweltbestenliste sprang, wunderten sich nicht nur die Zuschauer im „Vogelnest“ von Peking. Der Hochspringer aus Syrien rief in Erinnerung, dass in seiner vom Bürgerkrieg geschundenen Heimat noch immer Leistungssport betrieben wird – und olympische Träume reifen.
„Ich hoffe, ich schaffe es aufs Podium und mache mein Volk glücklich“, sagte der 29-Jährige. Zusammen mit einer Handvoll Athleten vertritt er in Rio de Janeiro ein Land, das seit fünf Jahren in Gewalt, Terror und Tod versinkt.
Wenn Ghazal daheim trainierte, war der Bürgerkrieg nicht weit. Das Tishrin-Stadion im Nordwesten von Damaskus liegt nur ein paar Kilometer von der Frontlinie entfernt, der Lärm der Gefechte, die sich die Regierungstruppen, die Terrormiliz Islamischer Staat und Rebellengruppen liefern, übertönt sogar das Dröhnen der Generatoren am Rande der Laufbahn.
Offiziell herrscht seit Februar in der syrischen Hauptstadt Waffenruhe, doch mit dem Trainingsalltag seiner Olympia-Konkurrenten haben Ghazals Bedingungen wenig gemein. „Es gibt viele Probleme, das Tishrin-Stadion steht häufig unter Beschuss“, berichtete Hürdenläuferin Ghofrane Mohammad, die zusammen mit dem Hochspringer trainierte: „Viele Athleten wurden verwundet, einige sind sogar gestorben.“
Dennoch bemühen sich die Sportler um Normalität. „Wir kommen immer wieder. Wir werden der Welt zeigen, dass Syrien noch existiert“, sagte Mohammad: „Ich habe keine Angst vor dem Tod.“
Die 27-Jährige stammt aus Aleppo, der Hochburg der Rebellen, die nach dem Bombardement durch das Regime von Baschar al-Assad und die russische Luftwaffe in Trümmern liegt. „Wenn ich Nachrichten aus Aleppo höre, beunruhigt es mich sehr“, sagte Mohammad: „Trotzdem trainiere ich weiter, und wenn ich an Wettkämpfen teilnehme, ist meine Familie glücklich.“
Nicht nur der seit fünf Jahren tobende Krieg und die Zerstörung erschwerten die Olympia-Vorbereitungen der syrischen Sportler. Auch die politischen und diplomatischen Folgen: Sanktionen und Reisebeschränkungen vor allem europäischer und anderer arabischer Länder bremsten Ghazal und Co. aus. „Wegen der Visa ist es kompliziert, sich auch außerhalb Syriens zu messen. Ich habe von vier Wettkämpfen drei verpasst, da ich für Birmingham, Rom und Marokko keine Einreiseerlaubnis bekommen habe“, berichtete der Hochspringer: „Wir verpassen viele Meetings, und das erschwert es, das Level zu erreichen, das wir benötigen.“
Für Ghazal ist Olympia in Rio keine neue Erfahrung, es sind bereits seine dritten Spiele, schon 2008 in Peking und 2012 in London ging er an den Start. Nie jedoch war der Weg dahin so schwierig. Und erstmals wird er in Brasilien auf Landsleute treffen, die in einem Flüchtlingsteam unter olympischer Flagge starten. Die Schwimmer Rami Anis (25) und Yusra Mardini (18), die mittlerweile in Berlin lebt, sind wie mehr als vier Millionen Syrer vor dem Krieg ins Ausland geflohen.
Ghazal, inzwischen auf Rang sechs der Jahresbestenliste abgerutscht, träumt davon, die vierte olympische Medaille für sein Land zu gewinnen. Nach Silber für den Ringer Joseph Atiyeh 1984 und Gold für die Siebenkämpferin Ghada Shouaa 1996 hatte zuletzt 2004 in Athen der Bronze-Boxer Nasser al-Shami auf dem Podest gestanden. Lange bevor Syrien in Gewalt, Terror und Tod versank.